Wenn wir in der Gegenwart an die Aufwertung Johann Sebastian Bachs im 19. Jahrhundert bis hin zu seinem heutigen Status als einer der zentralen „Meister“ des Kanons denken, so ist unsere Wahrnehmung aus deutscher Perspektive durchzogen mit den immer gleichen Akteuren und Narrativen. Bereits Felix Mendelssohns Rolle bei der „Wiederentdeckung“ des vermeintlich in Vergessenheit geratenen Bach grenzt in populärwissenschaftlichen Darstellungen an ein legendenhaftes Ereignis. Wir sehen, wie mächtig und suggestiv die um Bach herausgebildeten historischen Klischees wirklich sind. Gerne identifizieren wir uns kulturell mit diesen Geschichten.
Frankreich hat hingegen eine völlig andere historische Begegnung mit Bach erlebt, die mit diesem beschriebenen Ballast wenig gemein hat. Obwohl Bach bereits im 18. Jahrhundert in Frankreich rezipiert wurde, wurde er von einer breiteren Öffentlichkeit erst im 19. Jahrhundert wahrgenommen. Die Orgel spielt bei der Verbreitung Bachscher Werke dabei eine besondere Rolle. Bei der einziehenden Standardisierung und Verbreitung der großen Orgeln Aristide Cavaillé-Colls beginnend setzt dieses Seminar im späten 19. Jahrhundert an und soll sich mit den kulturellen, theologischen wie politischen Implikationen der Kanonisierung Bachs in Frankreich auseinandersetzen:
Welche Rolle spielte die eskalierende „Erbfeindschaft“ bei der Kanonisierung Bachs? Welche Institutionen und Akteure trieben seinen Eingang in den Kanon voran? Welche ästhetischen Debatten gab es im Zuge der französischen Bach-Rezeption? Und wie konnte sich ein dezidiert lutherischer Komponist so erfolgreich im in katholischen Kirchen gespielten Werkerepertoire etablieren?
Das Seminar soll sich mit ausgewählten Aspekten der Bach-Rezeption in Frankreich seit 1875 beschäftigen, z.B. den Akteuren (César Franck, Charles-Marie Widor, Marcel Dupré und seine Schüler*innen, Maurice Duruflé, Pierre Boulez und andere), dem Repertoire in der gattungsgeschichtlichen Nachfolge Bachs, den Bearbeitungen von Bachs Werken sowie Interpretationsanalysen und -vergleichen.
Fachlich will das Seminar dabei einen Brückenschlag zwischen Musikwissenschaft und -theorie versuchen, wobei verschiedene Konzepte und Methoden der Musikanalyse durchgespielt werden sollen.- Lehrende*r: Kai Brandebusemeyer